KLINISCHE PSYCHOLOGIE: EIN ÜBERBLICK

ZIELE DER KLINISCHEN PSYCHOLOGIE

Die klinische Psychologie hat zwei Hauptziele, die sich auf die diagnostische Datenerhebung konzentrieren:

Forschung: Ziel ist die Erfassung objektiver Daten zu Entstehungsbedingungen und Verlauf psychischer Störungen.
Praxis & Qualitätssicherung: Validierung individueller Behandlungsmaßnahmen und Nachweis deren Erfolgs.

AUFGABEN DER KLINISCHEN PSYCHOLOGIE

Die Aufgaben der klinisch-psychologischen Diagnostik sind vielfältig:

Beschreibung: Dokumentation von Erleben und Verhalten der Patienten.
Klassifikation: Zuordnung von Patienten zu spezifischen Störungsbildern.
Erklärung: Untersuchung und Erklärung psychischer Störungen.
Prognosen: Vorhersage über den Verlauf von Störungen.
Evaluation: Bewertung der Wirksamkeit von Interventionen und Versorgungssystemen.

Hierbei kommen primär klinische Interviews und Fragebogenverfahren zum Einsatz.

HISTORISCHE ENTWICKLUNG

Die Diagnostik wurde durch verschiedene Pioniere geprägt:

Qualitative Einzelfallsdiagnostik: Freud und Breuer (1895) - Fokus auf detaillierte Fallberichte wie z.B. „Anna O.“.
Psychiatrische Klassifikation: Kraepelin (1896/1899) - Systematisierung psychischer Störungen anhand von Symptomen und Verlauf.
Projektive Verfahren: Rorschach (1921) - Entwicklung des Rorschach-Tests zur Schizophrenie-Diagnostik, dominierend bis in die 1960er Jahre.
Psychometrische Diagnostik: Hathaway & McKinley (1940er) - Entwicklung des Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) zur Symptomabklärung, welches aufgrund methodischer Mängel in der Kritik steht.

Rolle von Screeningverfahren

Screeningverfahren sind oft die ersten Schritte in einem diagnostischen Prozess:

Erkennung von Erkrankungsrisiken: Untersuchen, ob ein erkennbares Erkrankungsrisiko vorliegt.
Behandelbarkeit: Überprüfung, ob ein Patient grundsätzlich behandelbar ist.
Behandlungsmotivation: Evaluierung, ob die Behandlungsmotivation ausreicht.

Was ist ein Screening? Es handelt sich um eine Untersuchung von Personen, die noch nicht erkrankt sind, jedoch möglicherweise ein Erkrankungsrisiko aufweisen.

Ziel: Früherkennung eines Risikos zur präventiven Intervention.
Funktion: Screening fungiert als Filter oder Schnelltest und liefert eine Ja-Nein-Entscheidung (Risiko vorhanden oder nicht), jedoch keine gesicherte Diagnose.
Vorgehen: Bei positivem Screening-Befund sind detailliertere diagnostische Schritte erforderlich.

Technische Informationen zur Qualität von Screenings

Die Qualität eines Screenings hängt von mehreren Faktoren ab:

Häufigkeit einer Krankheit oder Störung.
Aussagekraft (Validität) des Screenings.
Cut-Off-Wert: Der Schwellenwert, ab dem ein Risiko angezeigt wird.

Zwei zentrale Kennzahlen zur Bewertung der Qualität sind:

Sensitivität: Das Ausmaß, in dem ein Verfahren Personen korrekt als auffällig kategorisiert.
Spezifität: Das Ausmaß, in dem ein Verfahren Personen zuverlässig als nicht risikobehaftet identifiziert.

Eine hohe Sensitivität minimiert falsch-positive Befunde (gesunde Personen, die fälschlicherweise als „krank“ eingestuft werden).

Beziehung zwischen Sensitivität und Spezifität: Unter gleichen Umständen sinkt bei zunehmender Spezifität die Sensitivität und vice versa.

Beispiel: Screening für PTSD nach Verkehrsunfällen

Ein Beispiel für ein Screening ist das für posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach Verkehrsunfällen:

Sensitivität: Hoch (ca. 90% der Betroffenen werden erkannt).
Spezifität: Mittel (ca. 30% falsch-positive Befunde).

Eine hohe Sensitivität ist entscheidend, um ernsthafte Erkrankungen nicht zu übersehen.

Screeningverfahren sind sinnvoll, wenn:

Eine Früherkennung möglich ist.
Effektive Behandlungsangebote existieren.
Das Verfahren einfach und kostengünstig ist.

Anamnese & Katamnese

Anamnese: Die Erhebung der persönlichen Krankengeschichte.

Eigenanamnese: Befragung des Patienten durch einen Kliniker.
Fremdanamnese: Befragung von Personen aus dem direkten Umfeld des Patienten.

Themen der Anamnese umfassen:

Allgemeine Angaben/ Vorstellungsgrund.
Symptomatik (Art, Dauer, Häufigkeit, Intensität).
Biografische Angaben zum Patienten.
Soziales/familiäres Umfeld; familiäre Belastungen.
Vorberichte (medizinisch, therapeutisch).

Katamnese: Befragung nach der Behandlung.

Hier wird untersucht, in welcher Form sich die Beschwerden/Symptome durch eine Therapie verändert haben.

Klinisches Interview

Das klinische Interview ist das wichtigste Verfahren:

Gerichtetes Gespräch mit dem Patienten oder einer Bezugsperson zur strukturierten Informationsgewinnung.
Arten des Interviews:

Halbstrukturiert: Gesprächsleitfaden vorhanden, aber freie Antworten sind möglich.
Strukturiert: Inhalt, Fragen, Reihenfolge und Auswertung sind genau festgelegt.

Vorteile: Standardisierung erhöht Objektivität und Reliabilität; Daten sind vergleichbar.
Nachteile: Gefahr, dass relevante Informationen über die persönliche Sichtweise des Patienten verloren gehen.

Einflussfaktoren auf die inhaltliche Qualität

Sprachliche Verständigungsschwierigkeiten.
Kognitive Überforderung.
Testleiterfehler: Systematische Abweichungen, verursacht durch das Verhalten oder die Handlungen des Befragers, die Ergebnisse verzerren.
Voreinstellungen (Vorurteile) können die Wahrnehmung verzerren.
Informationen werden oft nur selektiv weiterverarbeitet.
Anamnestische Daten ergaben oft unzureichende Gütekriterien.
Ein hoher Grad an Standardisierung erhöht die Aussagekraft der gewonnenen Daten erheblich.

Selbstbeurteilungsverfahren

Selbstbeurteilungsverfahren sind Fragebögen, die es Patienten ermöglichen, ihren psychosozialen Status zu bewerten:

Ansätze:

Störungsspezifisch: Fokussiert auf eine spezifische psychische Störung (z.B. BDI-II).
Eindimensional:
Störungsübergreifend: Konzentriert sich auf Merkmale, die bei mehreren Störungen vorkommen (z.B. SCL-90-S).
Mehrdimensional:

Vorteile: Geringer Erhebungsaufwand, hohe Durchführungs-/Auswertungsobjektivität und gute Reliabilität. Gut zur Therapieplanung und -evaluation geeignet.
Nachteile: Verzerrungen möglich. Selbsturteile stimmen häufig nicht mit Informationen von Bezugspersonen überein.
Daher lohnt eine multimodale Diagnostik.

Fremdbewertungsverfahren

Fremdbewertungsverfahren sind vonnöten, wenn Patienten keine zuverlässigen Auskünfte geben können (z.B. bei Demenz):

Informationsquellen:

Anghörige liefern Alltagsinformationen.
Experten/Fachpersonal sind Ärzte oder Therapeuten, die den Patienten befragen oder sein Verhalten beobachten.

Daten von Bezugspersonen sind besonders wertvoll, wenn der Bekanntheitsgrad hoch ist.
Experten müssen sich häufig auf Patientenangaben oder Auskünfte von Angehörigen verlassen.

Warum Schulungsmaßnahmen wichtig sind

Schulungsmaßnahmen sind wichtig, da auch Experten irren können, was zu Verzerrungstendenzen führt:

Beispiel: Halo-Effekt - ein positiver Gesamteindruck aufgrund eines markanten Merkmals kann weniger gute Eigenschaften ausgleichen.
Daher sind Schulungen zu Themen wie Diagnostik, Gesprächsführung und Testauswertung notwendig.

Diagnostik sozialer Interaktionen

Heute wird die Bedeutung sozialer Beziehungen und Interaktionen für die Entstehung und Behandlung psychischer Erkrankungen immer mehr anerkannt:

Die Klassifikation von Interaktionsstörungen ist jedoch noch nicht vollständig in der klinischen Psychologie integriert.
Entwicklungsabhängige Interaktionsstörungen sind u.a. schulbezogene Angststörungen, relative Bindungsstörungen im Kindesalter, Trennungsangst und aggressives Verhalten, das auf die Familie beschränkt ist.
Auffälligkeiten oder gestörte Interaktionen müssen erfragt und erfasst werden, um eine Diagnose zu stellen.

Soziale Interaktion erfassen

Merkmale sozialer Interaktionen lassen sich erfassen durch:

Verhaltensbeobachtungen.
Selbsteinschätzungen der Patienten.
Fremdurteile.

Hierbei liegt der Fokus nicht nur auf den Defiziten der Patienten, sondern auch auf deren sozialen Kompetenzen. Ohne die Analyse sozialer Interaktionen kann kein Therapieplan erstellt werden. Das Themenfeld besteht insbesondere in der Familendiagnostik und der Diagnostik sozialer Kompetenzen.

Beobachtung aggressiven Verhaltens

Zur Datensammlung des Verhaltens bei Kindern hat aggressives Verhalten eine große Bedeutung:

Verbal, körperlich und indirekt aggressive Verhaltensformen stehen im Fokus.
Verhalten wird von Eltern und Lehrkräften erfasst.
Auffällige Kinder sind oft nicht nur Täter aggressiver Handlungen, sondern auch häufig Opfer (z.B. durch Mitschüler oder Familienangehörige).

Diagnostische Erhebungsverfahren von aggressivem Verhalten

Zur Erfassung aggressiven Verhaltens wurden zahlreiche Erhebungsverfahren entwickelt:

Beobachtungsbogen für aggressives Verhalten (BAV): Dieser wird von Beobachtern beantwortet.
Der BAV besteht aus 14 Kategorien:

Die ersten 10 beschreiben aggressives Verhalten.
Die restlichen 4 erfassen sozial kompetentes Verhalten.

Aggressives Verhalten wird erfasst durch Kategorien wie verbal/nonverbal, offen-gezeigt/verdeckt-hinterhältig und dem Grad der Beteiligung an Handlungen.
Verdeckte aggressive Verhaltensweisen können durch Beobachtungsverfahren oft nicht erfasst werden.

Felddiagnostik

Die Felddiagnostik (ambulatory assessment) erfasst Verhalten und Erleben im natürlichen Alltag der Patienten:

Hier entstehen ökologisch valide Daten, die weniger verzerrt sind als bei klassischen klinischen Methoden (z.B. durch Erinnerungslücken oder Laborsituationen).
Die zeitliche Distanz zwischen Datenregistrierung und tatsächlichem Geschehen ist minimal (möglicherweise nur Sekunden).

Bereiche der Felddiagnostik

Die Felddiagnostik umfasst:

Ambulatory Assessment: Erhebung von psychologischen und physiologischen Daten im Alltag, oft mit technischen Hilfsmitteln.
Ambulatory Monitoring: Kontinuierliche Messung körperlicher Daten (z.B. Herzfrequenz).
Ecological Momentary Assessment (EMA): Erfassung psychologischer Reaktionen in Echtzeit (z.B. bei Panikattacken).
Telemetrie: Drahtlose Übertragung von Gesundheitsdaten, meist in der Medizin genutzt (z.B. ein Diabetiker misst seinen Blutzucker und die Werte werden automatisch an seinen Arzt über eine App gesendet).

EMA-Methodik

EMA ist eine Methode, bei der klinisch-psychologische Daten in Echtzeit und im natürlichen Alltag der Person erfasst werden:

Dies kann z.B. per App oder tragbaren Geräten erfolgen.
Mithilfe der EMA-Methode können gleichzeitig verschiedene Daten im Alltag erfasst werden, z.B. Stimmung, Bewegung und Körperfunktionen.
Die Daten ermöglichen eine direkte Rückmeldung an den Patienten.
So wird Self-Monitoring möglich: Der Patient kann sein Verhalten selbst beobachten und mit Unterstützung verändern.
Der Einsatz mobiler Geräte (z.B. Smartphones, Smartwatches) wird in der Zukunft noch wichtiger, da der technische Fortschritt immer bessere Möglichkeiten zur Datenerhebung im Alltag bietet.

Apparative Diagnostik

Die apparative Diagnostik ist der Einsatz technischer Geräte zur Erfassung physiologischer, neuropsychologischer und leistungsbezogener Daten:

Beispiele sind Hautleitfähigkeit (Angst), Reaktionszeit (z.B. bei ADHS), computerbasierte Tests (z.B. in der Rehabilitation).
Moderne computerbasierte apparative Verfahren verknüpfen Reize und Reaktionsmuster.
Die apparative Diagnostik misst Gehirn-, Herz-, Haut- und Muskelaktivität mit speziellen Geräten.
Diese kostspieligen Methoden werden hauptsächlich in Forschung und Medizin eingesetzt, nicht im klinischen Alltag.

Determinationstest

Der Determinationstest (DT) aus dem Wiener Testsystem dient zur Erfassung der reaktiven Belastbarkeit mit dem Ziel, Aufmerksamkeitsstörungen zu spezifizieren:

Er ist ein komplexer Mehrfach-Reiz-Reaktionstest.
Testpersonen reagieren auf Farb- und akustische Signale, indem sie entsprechende Tasten betätigen.
Dieser Test wird in der klinischen Praxis eingesetzt (z.B. bei affektiven Störungen, neurologischen Erkrankungen, Psychopharmaka-Testung) und insbesondere in der Verkehrpsychologie.

Übersicht über die Klinische Psychologie und Diagnostik

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